Engelchen und Teufelchen

Kategorien Alltag, Über Jan, veröffentlicht am Sonntag, 10. Juni 2018, letzte Änderung: Freitag, 8. Juni 2018
Findhorns Engelkarten

In Flores de Vida habe ich sie auf französisch kennengelernt und später auf der Finca Tierra auf deutsch entdeckt. Es handelt sich um eine Sammlung kleiner Kärtchen, von denen jedes mit einem einzigen, anderen Begriff versehen ist; dazu eine kleine, farbige Zeichnung von einer oder mehr Engelsfiguren, die sich in einer passende Geste oder Szenerie befinden.

Das Spiel kommt aus der englischen Lebensgemeinschaft Findhorn und ist schon seit Jahren im Handel erhältlich. Es hat einen spirituellen Hintergrund, aber letztendlich kann es jeder nach eigenem Ermessen für sich auslegen. Alle Begriffe haben positive Konnotationen, zumindest neutrale. Das kann Auslegungssache oder situationsbedingt sein.

In Flores de Vida haben wir es öfters in Gruppensituationen verwendet, um dem gemeinsamen Austausch einen Startimpuls zu geben. Jeder zieht verdeckt ein Kärtchen aus der Schachtel und teilt dann reihum mit, was ihm zu seinem Begriff einfällt. Auf der Finca Tierra liegen sie in einer Schüssel im Küchenhäuschen ohne besonderen Einsatzzweck.

Der spirituelle Hintergedanke bei der Sache ist, dass die Karte, die jemand gezogen hat, nicht aus reinem Zufall genau diese ist, sondern in aktueller Verbindung zu seiner Situation steht. Wer genauer darüber nachdenkt, sollte zum Schluss kommen, dass sein Schicksal an diese Karten zu hängen genauso unsinnig bis gefährlich wäre wie es das bei Horoskopen, Tarot oder ähnlichem ist. Bereits die Tatsache, dass jemand anders eine Vorauswahl an Möglichkeiten getroffen hat, schränkt die eigene Wirksamkeit ein. Ich müsste ja nur die Karte Liebe entfernen, um sie jedem zu verwehren.

Wenn ich mir die Karten in der Gesamtheit anschaue, finde ich es in den meisten Fällen nicht allzu schwer einen Bezug herzustellen, also zu argumentieren, dass jede Karte jederzeit passt. Zumindest ist das für mich der Antrieb dieses Spiel seit einigen Monaten jeden Tag an diesen beiden Orten zu spielen. Sobald ich dran denke und in der Nähe der Karten bin, ziehe ich einmal pro Tag eine und versuche dann beiläufig den Fokus auf das entsprechende Stichwort zu lenken oder Verbindungen zu meinen aktuellen Situationen, Ereignissen und Erlebnissen zu finden. Ich sehe es als eine Übung in Kreativität, bei der ich selber wähle, dass der Prozess durch einen äußeren Einfluss in Gang gesetzt wird. Da es sich wie gesagt um positiv verordnete Begriffe handelt, fördert es die Beschäftigung des Geistes und der Gedanken mit schönen und angenehmen Dingen.

Auf die schiefe Bahn

Während der Zeit, in der ich an meinem Artikel über Mut schrieb und darüber nachdachte, gab es auch den Morgen, an dem ich die Karte Mut zog. Es war ein Tag, an dem ich mit Maïne nach Puntagorda gefahren bin. Sie wollte Einkäufe erledigen und ich wollte schauen, was ich an Orangen erobern kann. Mit meiner Beute, die ich weitestgehend mit Erlaubnis ergattert hatte, wartete ich am vereinbarten Treffpunkt, direkt an einer Plantage. Sie liegt neben der Straße, etwas vertieft, ist gut einsehbar und hat an der Stelle keinen Zaun. An den übrigen Seiten ist sie eingezäunt. Das Tor stand offen. Ich lief herum, rief, aber es war niemand anwesend. Der Boden war mit Früchten übersät.

Ich deponierte meine bereits gefüllten Kisten und Taschen an unauffälliger Stelle, leerte den Rucksack, stieg in die Plantage hinab, füllte den Rucksack und kletterte wieder empor. An der Stelle ist nicht viel Verkehr. Hinter den Bäumen lässt sich verstecken und von innen sehen, wann ein guter Moment zum Hinaussteigen ist. Ich füllte den Inhalt des Rucksacks in mein provisorisches Versteck um, checkte die Lage und gab mich erneut der Selbstbedienung hin. Erst jetzt beim Schreiben wird mir klar wie selbstverständlich und gleichgültig ich meinen Diebstahl sehe. Im verlinkten Artikel habe ich ja meine Argumentation und Rechtfertigung dargelegt, aber gut möglich, dass sich meine Sichtweise da mehr und mehr ändern wird.

Nun ja, jedenfalls hatte ich bis zum Eintreffen von Maïne alle mir verfügbaren Kisten und Taschen und Säcke mit köstlichen, reifen und aus meiner Überzeugung vom Besitzer ignorierten Orangen gefüllt. Ich lud alles ins Auto und wir fuhren davon. Auf dem Weg nach Hause erzählte ich davon, dass ich am Morgen die Mut-Karte gezogen hatte und mich dadurch angespornt fühlte auch ohne Erlaubnis die Früchte von der Plantage zu entwenden. Und was war die Reaktion? Maïne meint nur sinngemäß “Jan, das hätte ich nicht von dir gedacht: Dass es einmal so weit kommen würde, dass du Engelkarten ziehst.” Wir haben herzhaft gelacht. Tatsächlich hatte ich gar nicht groß erwähnt, dass ich dieses kleine Ritual für mich etabliert habe.

Die Moral von der Geschichte

Wenige Tage nachdem ich den ersten Entwurf dieses Artikels fertiggestellt hatte, hörte ich eine der aktuellen (16.05.2018) Episoden aus dem Freakonomics-Podcast: Does Doing Good Give You License to Be Bad?. In dieser ging es um CSR und moral licensing. Der zweite Begriff beschreibt den psychologischen Effekt, dass wir uns durch das Bewusstmachen unserer guten Taten und Handlungen an anderer Stelle unmoralische Herangehensweisen erlauben, auch wenn die keinen Bezug zueinander haben. Das ist so etwas wie “Ich fahre ja kein Auto, da kann ich auch mal fliegen.” oder “Ich spende ja für Unicef, da ist es okay, wenn ich einmal schwarzfahre.” oder “Ich esse ja kein Fleisch, also ist es nicht so schlimm, wenn ich viel Strom verbrauche.” Und letztendlich versuche ich mir ja auch nur moralisch eine Rechtfertigung für Diebstahl zurecht zu legen.

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