Mit vielen Zuhausen

Kategorien Mit, veröffentlicht am Dienstag, 27. März 2018, letzte Änderung: Dienstag, 12. Juni 2018

Der Titel klingt etwas merkwürdig, aber es ist im Deutschen offenbar nicht vorgesehen mehrere Bleiben – ein Wort, dass das Konzept nicht besser beschreibt – zu haben. Es geht also darum, dass ich nicht ein Zuhause habe, sondern mehrere davon. Bei den üblichen Nachschlagewerken für die deutsche Sprache finde ich keine Hilfe und selber entwickle ich auch kein Sprachgefühl dafür, ob es Zuhauses oder Zuhausen oder eben nur Zuhause heißt. (Die Rechtschreibprüfung bemängelt immerhin Zuhausen wobei Zuhauses natürlich als Genitiv durchgeht.) Aber nur weil die passende Bezeichnung fehlt, heißt es ja nicht, dass es das zu bezeichnende nicht gibt. Es macht diesen Punkt umso spannender, finde ich.

Meine Definition

Tatsächlich wird mir dieser Aspekt erst jetzt bewusst. Denn wenn wir für etwas keinen Begriff haben, ist es entweder so normal, dass es nicht der Rede wert ist oder eben so ungewöhnlich und unwirklich, dass dafür die Worte fehlen. Auch ein Synonym wie Daheim erleichtert die Sache nicht.

Was macht ein Zuhause aus? Ein Ort der Geborgenheit und der Vertrautheit. Ein Ort, der Rückzug und Schutz bietet. Ein Ort, der einem Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Ein Ort zum Wohlfühlen und Erholen.

Auch wenn es sich auf beides anwenden lässt, denke ich bei Zuhause zuerst an etwas Immaterielles und nicht an eine Behausung oder ein Gelände. Die Stimmung eines Ortes und sein Wesen sind für mich entscheidender dafür ihn als Zuhause zu betrachten als die räumlichen oder infrastrukturellen oder geografischen Gegebenheiten.

Ist Heimat die große Schwester?

Der Begriff Heimat ist gerade aktuell und würde hier ebenfalls hineinpassen. Wobei ich da direkt eher zur Gegenkategorie tendiere und behaupten ohne Heimat zu sein. Definitiv mache ich sie an keinem Ort fest. Ich wüsste keinen Platz meiner Vergangenheit, der unabhängig von den Menschen eine Sehnsucht bei mir auslöst. Das Besuchen der Orte und Plätze, an denen ich meine Kindheit verbrachte, weckt zwar Erinnerungen, aber kein Bedürfnis danach dort länger zu verweilen oder wieder dort leben zu wollen.

Vielleicht liegt es auch am häufigen Umziehen, dass sich kein Heimatgefühl einstellte. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater wechselten öfter mal die Wohnung und Stadt. Ich lebte in Deutschland zwar immer in Nordrhein-Westfalen, aber meine kulturelle Prägung sehe ich nicht durch die Region. Es waren andere Werte und Normen, nach denen ich mich gerichtet habe. Meine ich. Kann aber auch sein, dass mein prägendes Umfeld so normal, gewöhnlich, unauffällig war, dass ich den Einfluss nicht wahrnehme. Auffällig ist ja immer nur die Abweichung.

Auch zu sagen, dass Deutschland meine Heimat ist, fällt mir schwer. Definitiv fühle ich mich in der deutschen Sprache zu Hause und tendenziell bleibt mein Interesse der Mitgestaltung der Gesellschaft, aber auch das liegt mehr an den Möglichkeiten der Teilhabe und Gestaltung als an Orten oder Bräuchen.

Zurück und von vorne

Bei der Suche nach meinen Anfängen, stoße ich darauf, dass meine Eltern seit meinem dritten Lebensjahr getrennt leben. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen und habe das immer als Zuhause betrachtet. Ich glaube ich habe das Zuhause meines Vaters nicht als mein Zuhause bezeichnet und wahrgenommen. Es mag an fehlenden Räumlichkeiten wie einem Kinderzimmer gelegen haben und dass die Aufenthalten immer den Charakter einer Übergangssituationen hatten. Zwar war diese Umgebung ebenfalls vertraut und irgendwie heimisch, aber trotz einer gewissen Regelmäßigkeit war das Dortsein etwas Außergewöhnliches. Ob ich mich bei meinem Vater zu Hause gefühlt habe, in dem Sinne, wie ich jetzt versuche darüber nachzudenken, kann ich nicht mehr sagen. Auf jeden Fall habe ich mich wohl und willkommen und geborgen und geliebt gefühlt.

Zuhause war also das und dort, wo ich mein Zimmer hatte, in dem ich walten und schalten konnte, wie ich wollte. Und später meine Wohnung. Das Drumherum war nebensächlich.

Als ich mich 2011 entschied mein Zuhause in Form meiner Wohnung aufzulösen, hatte ich keinerlei Zweifel und Bedenken und auch nicht das Gefühl etwas zu verlieren. Ich fühlte mich sicher genug, um auch ohne diese Hülle auszukommen und war mit dieser Art von Zuhause auch an den Grenzen meiner Gestaltungsmöglichkeit angekommen. Also an einem Punkt, an dem mir der Aufwand unverhältnismäßig schien dieses Zuhauses meinen damaligen Idealen anzupassen.

Von einem zu keinem

Ich hatte zwar den losen Plan irgendwo anders irgendwann wieder eine feste Bleibe zu finden, weil es mir eine Normalität schien, die ich gar nicht hinterfragte, aber ich war bereit ohne feste Basis danach zu suchen.

Bereits mit den ersten Schritten, die vorbei an Familie und Freunden führten, ergaben sich potentielle … zumindest Zufluchtsorte. Denn beinahe jeder bot mir an mich aufzunehmen, sollte ich umkehren und Unterkunft suchen.

Ich weiß gar nicht von welcher Seite ich es betrachten soll. Hatte ich zu dem Zeitpunkt überall oder nirgends ein Zuhause?

Zelt und Schlafsack deckten immer mein Bedürfnis nach Schutz und Rückzug ausreichend ab. Geborgenheit und Vertrautheit mag sich im gewohnten Sinne nicht eingestellt haben, aber ein Grundvertrauen ins Leben allgemein und eine Gewissheit, dass ich mich nicht in Gefahr befinde. Was soll schon passieren, wenn ich als junger, weißer Mann durch Westeuropa ziehe. Selbst Bauruinen und verlassene Häuser waren schon tage- bis wochenweise mein Zuhause.

Mein Zelt ins Aktion
Mein Zelt am Rande eines Rasthofes. Meist nutze ich nur das Innenzelt als Insektenschutz. Das Außenzelt als Regen- oder Sichtschutz ist selten nötig.

Ist Europa mein Zuhause? Als Gebiet? Als Wertegemeinschaft? Als das, was es mir ermöglicht hat und ermöglicht. Das sind ein paar spontane Gedanken, die ich jetzt nicht erörtern will. Vielleicht mal zu einem späteren Zeitpunkt.

Freiheiten hatte ich in gewisser Weise erst einmal mehr, denn ich musste mich nicht um ein Zuhause kümmern. Nicht dafür aufkommen, es nicht pflegen und erhalten, mich nicht darum sorgen.

Meine ersten Stationen sah ich als Unterkünfte. Sie waren Zwischenstopps, sowohl im Bezug auf meine Absicht irgendwo im Süden Spaniens zu enden als auch durch ihr Wesen.

Das Gras auf der anderen Seite…

In den Pyrenäen kam dann erstmals das Gefühl eines neuen Zuhauses auf. In der Domaine Maman Terre, der Gemeinschaft Der Freunde von Sanftmut und Harmonie – wie auch immer das nur für sich stehend klingen mag. Ich war zwar immer noch nicht am Ziel und wusste, dass ich dort nicht bleiben würde, aber es hatte zumindest schon mal einen neuen Nullpunkt geschaffen. Ich dachte mir, dass ich bei anschließendem Misserfolg mich eher dort einrichten könnte und würde, statt neu in Deutschland zu starten.

Es gab genug Platz und Freiraum für mich, zudem Bedarf an mir, meinen Fähigkeiten und meinem Engagement. Und auch die anderen, oben aufgelisteten Kriterien waren erfüllt. Ich kam mit den Bewohnern dort zurecht.

Zwei Stationen weiter, in Flores de Vida, empfohlen von Den Freunden in El Faitg, hatte ich mein zweites Zuhause-Erlebnis. Es waren andere Kriterien erfüllt, unterm Strich wohl mehr, aber zufrieden war ich noch immer nicht. Und auch wenn ich zunehmend Gefallen an anderen Sprachen gefunden habe und sich meine Französischkenntnisse an diesen beiden Orten enorm verbessert hatten, so fehlte mir beispielsweise das Austauschen und Ausdrücken in meiner Muttersprache bzw. die Fähigkeiten mich mit den Menschen um mich herum leicht und tiefgehend und weitestgehend missverständnisfrei in allen Belangen austauschen zu können.

Dieses Bedürfnis wurde nach einigem Umherirren auf der Finca Baobab erfüllt. Ein Ort, der zwar nicht dafür ausgelegt ist irgendwelche Aussteiger aufzunehmen oder Suchenden eine dauerhafte Unterkunft zu geben, aber am dem mir das Zwischenmenschliche ein enormes Wohlbefinden vermittelt hat. Offene Menschen, mit denen sich über alles reden lässt.

Was fehlte mir dann noch? Irgendwas ist ja immer! Mehr Wärme! Mehr Früchte! Immerhin wurde es Winter. Und mit den bisherigen Erfahrungen und Erlebnissen war mir eine Menge begegnet, das ich gerne an einem Ort gehabt hätte. So zog ich weiter, der Sonne und Hoffnung entgegen, vielleicht doch noch alles beisammen finden zu können.

Auf den Kanaren fand ich zwar wofür sie angepriesen wurden und verbrachte eine warme und satte Zeit dort, auch mit vielen Begegnungen, Gesprächen und Austausch, jedoch alles im freischwebenden Raum. Es gab keine Basis. Alle anderen waren dort auch nur unverbindlich, vorübergehend, lose bzw. taten sich mir keine Gemeinschaften oder Projekte auf, denen ich mich anschließen konnte. So entschloss ich mich mit Rückkehr des Frühlings ebenfalls zurück aufs Festland zu kehren. Immerhin mit einer neuen Adresse im Gepäck.

Lieber den Spatz in der Hand…

Warum noch weiter durch die Gegend tingeln, wenn doch schon einiges Lebenswerte dabei war. Ich besuchte dieselben Orte erneut. Prüfte meine ersten Eindrücke, vertiefte die Beziehungen und schaute, was sich seit meiner Abreise jeweils getan hatte. Meine Begeisterung hielt an. Und die Finca La Sacristia fügte sich prima in meine Sammlung an Wohlfühlorten ein.

Warum die Mühe machen in der Welt das Paradies zu suchen ohne Gewissheit, ob es überhaupt in der Form existiert – und auch noch auf mich wartet – wenn ich mit einer Handvoll schöner Plätze bereits zufrieden bin und mir ein schönes Leben machen kann?

Auch wenn allerorten recht bald die Aufforderung zu meinem längeren oder dauerhaften Bleiben geäußert wurde, wollte ich mich nicht festlegen. Anfangs glich ich mit dem Wechsel unter den gleichen Orten vielleicht noch das ein oder andere Manko aus, jedoch entwickelt es sich mehr und mehr zu einem Hingehen statt einem Weggehen. Und so habe ich mein Vorhaben auch von Anfang gesehen. Ich habe nicht definiert, dass ich aus Deutschland weggehe, sondern dass ich nach Spanien hingehe.

Von Freund zu Freund

Ich verlasse einen Ort nicht, weil ich ihm überdrüssig bin oder er mir, sondern weil ich die anderen Orte und vor allem die dazugehörigen Menschen lieb gewonnen habe. Ich will sie regelmäßig wiedersehen und am Vorantreiben ihrer Projekte mitwirken.

Da der Winter im Süden Spaniens für meine Ansprüche zu kalt ist, reiste ich auch Ende des zweiten Jahres auf die Kanaren. Wärme und Früchte lockten mich und auch wenn ich weiterhin keine Art von Zuhause dort wusste, so gab es Freunde, die Unterkunft boten. Und dabei tat sich dann die Finca Tierra auf und machte meinen Kreislauf komplett.

Gut vorstellbar, dass ich vorerst nicht weiter gesucht hätte, wenn ich diesen Ort vor den anderen entdeckt hätte. Klimatisch und was das Fruchtangebot betrifft übervorteilt La Palma die anderen Orte über das ganze Jahr gesehen. Und alle anderen Vorzüge habe ich hier auch, also meine Anforderungen an ein Zuhause und das angenehme Miteinander mit den Menschen, um mich herum.

Aber auch wenn ich reisen als eher unangenehm empfinde und es keine Notwendigkeit gibt, wechsle ich jedes Jahr zwischen all diesen Zuhause durch. Ich schließe auch nicht aus, dass das gute Funktionieren dieser Lebensweise für mich darauf beruht, dass es diese Wechsel gibt. Diese ständigen freudigen Empfänge, die begrenzte gemeinsame Zeit und das leicht traurige Abschiednehmen. Ich gehe fort und komme doch immer an.

Zuhause ist, wo Familie ist

Meiner Reiseunlust sind allerdings die Freunde in den Pyrenäen und vor allem meine Familie und Freunde in Deutschland zum Opfer gefallen. Ich weiß noch nicht, ob ich den dortigen Kurzaufenthalt im Sommer wie letztes und dieses Jahr dauerhaft etablieren werde. Die vielen Zuhause um mich herum und der gelegentliche Kontakt über Videotelefonie haben mich jedenfalls kein Mangel wahrnehmen lassen. Erst das leibhaftige Wiedersehen nach drei Jahren geografischer Distanz haben mich den Wert der Nähe zu meiner Familie spüren und den Unterschied realisieren lassen.

Ich komme also ohne räumliches Zuhause gut zurecht. Ich war mit einem Zuhause zufrieden. Ich genieße viele emotionale und räumliche Zuhause zu haben.

Wohnsitz

Einen offiziellen Wohnsitz habe ich nicht. Anfangs nutzte ich noch die Anschrift  meines ersten Bruders, um ausstehende Briefwechsel und ähnliches zu bewerkstelligen, aber mittlerweile habe ich keinerlei Behördenkontakte mehr. Ich erhalte also weder Rentenbescheide noch Wahlbenachrichtigungen. (Um die Teilnahme an Wahlen kümmere ich mich aber inzwischen selber.) Ich lagere bei meinem Bruder nur noch einen Karton und eine Reisetasche mit Habseligkeiten, von denen ich mich noch nicht trennen wollte. Auch der Vertrag für meine Internetdomain läuft über ihn, da jener nur mit Anschrift möglich ist.

Als ich 2016 während eines Besuchs bei ihm in Bonn meinen ersten Reisepass beantragt habe, weil ich auch mit dem Gedanken spielte durch Marokko zu reisen und mein Personalausweis zudem vor seinem Ablaufdatum stand, verursachte die Tatsache, dass ich nirgends gemeldet war, auf der Behörde Verwirrung.

Als ich Deutschland verlassen hatte, war mir noch nicht klar von welcher Dauer dieses Abenteuer seien und wo ich enden würde. Deshalb sah ich vorerst von einer offiziellen Abmeldung ab. Diese holte ich dann aber rückwirkend nach, um ein gültiges Dokument zur Beantragung des Reisepasses zu haben.

Meine alte Anschrift in Münster gebe ich noch an, wenn ich beispielsweise online an Petitionen teilnehme, die derartige Angaben erfordern. Ich weiß nicht, was am Ende dabei herauskommt. Ob ich bei Prüfung, wenn es tatsächlich auf jede einzelne Stimme im Detail ankommt, aussortiert werde? Andernfalls würde ich gar nicht auftauchen.

Da ich nun mehrere Wohnorte habe und mich auf keinen davon festlege, bleibt eine Anmeldung schwierig. Zu allererst sehe ich aber auch keinen Nutzen darin, da ich mich ohne Erwerb nicht als steuerpflichtig sehe und gleichzeitig auch keine Ansprüche an staatliche Unterstützung stelle. Ich habe den Bedarf nicht und scheue den Aufwand.

Bislang ging allein von La Palma der Reiz aus mich dort zu registrieren, denn als Bewohner der Kanaren ist das Reisen billiger. Nur bis zur Hälfte des regulären Preises zahlen Inselbewohner, wenn sie mit Flugzeug oder Fähre nach Spanien und zurück reisen. Mit meinen regelmäßigen zwei Überfahrten pro Jahr, war es also mehr als einmal eine Überlegung wert diesen Schritt zu gehen. Andererseits erfolgt diese Vergünstigung nicht aus Nächstenliebe der Transportunternehmen, sondern durch Subventionen der Inselregierung, also aus Steuergeldern. Und auch wenn ich meinen Beitrag für die Gesellschaft auf anderen Wegen und mit anderen Mitteln sehe, so möchte ich dennoch nicht über diesen Umweg davon profitieren. Wenn es mein Bestreben ist gegen Bezahlung zu reisen, dann will ich auch möglichst den vollen Bezug zu den Kosten haben und diese tragen. Gut, ich lasse mir das Ticket schenken, aber der entsprechende Gegenwert stände mir ja sonst anders zur Verfügung.

Ich bleibe vorerst dabei ohne offiziellen Wohnsitz und ohne Meldeadresse durchs Leben zu gehen, trage dafür neben meinem Reisepass jeweils eine Karte mit Kontaktdaten und Anschrift meiner Abreise- und Zieladresse bei mir.

Nachtrag: Auf eine passende und interessante Untersuchung zur emotionalen Bindung zu Orten bin ich heute gestoßen.

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