Natürlich künstlich

Kategorien Sichtweisen, veröffentlicht am Sonntag, 29. April 2018, letzte Änderung: Dienstag, 5. Juni 2018

In diesem Artikel will ich mich der Natur nähern, also mein Verständnis von Natur erörtern. Was ist Natur und was ist das Gegenteil von Natur? Kunst, Kultur? Gibt es überhaupt ein Gegenteil? Gibt es etwas, das nicht Natur ist? Wo hört Natur auf und wo fängt Nicht-Natur an? Ist nicht auch mein Computer ein Teil der Natur?

Mit den Antworten darauf habe ich mir letztes Jahr ein neues Verständnis davon gemacht und bislang erst in zwei von einander unabhängigen Unterhaltungen jeweils einer anderen Person und dabei auch mir selber formuliert. Und gegensätzliche Reaktionen erhalten. Auslöser war einmal die allgegenwärtige Bedrohung der Natur, mit dem Menschen als Feind und Gegenspieler und einmal die allgegenwärtige Verherrlichung und Romantisierung eines natürlichen oder naturnahen Lebens. Und beides stelle ich in Frage.

Definitionsproblem

Ich erinnere mich daran, dass ich früher einmal eine Definition für mich verfasst habe, die keinen Tiefgang hatte. Wenn der Vogel sein Nest oder die Bienen ihren Stock bauen, dann sehen wir das als Natur an, aber nicht den Hausbau eines Menschen. Daraufhin legte ich mir zurecht, dass es solange Natur sei, wie das Produkt direkt aus der Natur heraus, ohne Werkzeuge, geschaffen wird. Baue ich mir also eine Hütte, indem ich Äste sammle oder diese mit den bloßen Händen abbreche, dann bleibe ich in der Natur. Bastle ich mir erst einen Hammer, dann erschaffe ich Kultur. (An der Stelle bietet sich an den Blog primitivetechnology.wordpress.com unterzubringen, denn dort passiert genau das: ein Mensch geht in den Dschungel und baut sich mit den dortigen Materialien Werkzeuge, Gefäße, Apparate, Behausungen. Er beginnt mit bloßen Händen und erweitert seine Möglichkeiten aufeinander aufbauend.)

Doch was ist mit Tieren, die Werkzeuge nutzen: Stöcke oder Steine; auch wenn diese vielleicht nicht nochmals präpariert sein mögen, so doch aber gezielt gewählt. Oder dem Vogelnest, das Wollfäden oder Draht oder Plastikteile enthält? Der Vogel hat sie aus seiner Umwelt genommen, mit einem natürlichen Verständnis, wenn der Begriff hier angebracht ist. Denke ich ein bisschen intensiver drüber nach, kommen mir zahlreiche Beispiele und Fälle in den Sinn, die meine Grenzziehung schwierig werden lassen.

Lebensfeindliche Natur

Fangen wir vorne an. Natur ist alles was ist. Es gibt nichts außerhalb der Natur. Alles was existiert oder noch entstehen wird, ist Teilmenge von etwas, das schon vorhanden ist. Unsere Welt besteht nicht aus ständigen Big Bangs, in denen etwas entsteht, das vorher nicht da war.

Der größte Teil, den wir von der Natur kennen, ist lebensfeindlich. Zumindest nach unserem Verständnis. Die Leere des Universums enthält und unterstützt kein Leben und die meisten Planeten tun es ebenso wenig. Und selbst die Erde, wenn wir sie einmal von Kern bis in die oberste Atmosphäre betrachten, hat nur einen schmalen Bereich in der Vertikalen, der lebensfreundlich ist. Und betrachten wir diesen Bereich horizontal, dann bleibt nur sehr wenig, der menschenfreundlich ist. Wir brauchen Wasser als Grundlage zum Leben und obwohl die Erde zu einem Großteil damit bedeckt ist, bedeutet dieser eher Tod für uns anstatt Lebensraum.

Die Natur hat keine Moral und Ethik, und keine Absicht. Sie ist gleichgültig, weder gut noch böse, richtig oder falsch, schön oder hässlich. Sie ist nicht harmonisch, nicht friedlich, nicht im Gleichgewicht, nicht perfekt, nicht gesund oder krank. Und sie ist nicht zerstörbar. Zumindest nicht durch ihre Bestandteile oder sich selber; soweit wir das bislang beurteilen können.

Der Mensch ist kein Fehler, kein Problem, keine Gegner für die Natur. Er ist ein Aspekt von ihr, eine Variante. Natur verändert sich, durch sich selber. Die größten Veränderungen oder das was wir Zerstörungen und Massenaussterben nennen, geschah vor der Entstehung des Menschen. Die Natur lässt Sonnen explodieren, Planeten miteinander kollidieren, Vulkane ausbrechen und tektonische Platten verschieben. Sie lässt die eine Art durch eine andere verdrängen und eine Spezies die andere auffressen.

Die Natur interagiert ständig mit sich selber, ohne Rücksicht auf Verlust und Schäden und Konsequenzen.

Bewusster und unbewusster Konflikt

Warum laden wir Menschen uns die Last auf, unser Handeln als wider der Natur zu bezeichnen? Sehen uns als Gefahr und Bedrohung? Soweit wir es erfassen können, hat die Natur mit dem Menschen erstmals so etwas wie Bewusstsein und Gewissen hervor gebracht und damit etwas, dass sich gegen sich selber und gegen die Natur stellen kann, zumindest theoretisch; sich von ihr zu distanzieren und abzugrenzen versucht.

Auch wenn ich an der Anti-Atomkraft-Bewegung teilgenommen habe, so habe ich mich doch sehr bald an der Begrifflichkeit gestört. Und genauso verstört mich auch das Gerede vom Genmais und der Chemie, die wir nicht auf und im Körper haben wollen. Ich verstehe zwar was gemeint ist bzw. was der Hintergrund ist, aber ich stelle ständig fest, welches Missverständnis und Weltbild damit transportiert wird. In der Regel ein von Angst und Unwissen geprägtes.

Ohne die Kraft der Atome oder ihrer Kerne gäbe es uns gar nicht. Das sind physikalische Eigenschaften der Natur, die wir uns zu Nutzen machen. Und ohne die Kräfte und Mechanismen im Atom gäbe es keine Chemie, welche das Interagieren der Atome und Moleküle miteinander beschreibt und ohne die es keine Biologie gäbe. Das Leben ist Chemie, wir Menschen sind Chemie. Essen und Atmen und Denken ist Chemie. Und entscheidender Bestandteil des Lebens sind Gene, die Träger der Erbinformationen.

Wozu assoziieren wir all das mit negativen Auswirkungen und bedrohlichen Szenarien und abzulehnenden Dingen? Radioaktivität und Mikrowellenstrahlung gab es schon lange vor der Menschheit. Und die stärksten Gifte setzen andere Lebewesen als der Mensch gegen Widersacher ein. Krankheiten sind keine Rache der Natur, Bakterien und Viren haben schon immer mit anderen Lebewesen interagiert, mal zu deren Gunsten, mal dagegen. Wieso sollen alle Brutalitäten und Grausamkeiten der Natur in Ordnung sein solange sie nicht vom Mensch begangen werden? Warum sprechen wir davon, dass etwas, dass nur der Mensch herstellt, dass es in der Natur nicht vorkommt? Honig kommt auch nicht in der Natur vor, wenn Bienenarten ihn nicht produzieren würden. Und ohne Säugetiere würde auch Milch in der Natur nicht vorkommen. (Ich hoffe es gibt da jetzt keine Sonderfälle und Ausnahmen, von denen ich nichts weiß und die meine Argumentation kaputt machen, aber ich denke, dass dennoch klar wird was mein Punkt ist.)

Wir sollten uns weder über- noch unterschätzen. Wir spielen mit im großen Spiel der Natur und haben dabei die Chance ein Wertesystem anzulegen und die Naturgesetze über die Gegebenheiten hinaus für uns zu nutzen. Allerdings erlegen wir uns unseren Verstand als Verpflichtung auf. Weil wir ihn haben, seien wir genötigt ihn zu nutzen und dürfen nicht dahinter zurückfallen. Nur ist es ein Ideal vernünftig zu handeln, also etwas nach dem wir uns richten können, aber etwas, das nicht zu erreichen ist.

Was soll der Mensch sein, wenn er nicht Natur ist und kann etwas, das Natur ist, etwas schaffen, das nicht Natur ist? Radioaktiver Müll, Plastik im Ozean, Asphaltstraßen, Betongebäude usw. Das ist alles Natur. Es führt dazu, dass Teile beschädigt und zerstört werden, aber es führt auch zur Entstehung neuer Teile.

Es gibt die Romantisierung von Tieren wie Menschenaffen und Delfinen etc. und viel zu häufig wird auch an Kinder ein Idealbild von einem guten Menschen angelegt, dass nur durch das Aufwachsen in unserer Gesellschaft pervertiert würde. Ich finde das alles weder hilfreich, noch förderlich, noch sinnvoll. Wir brauchen weder Feindbilder noch Selbstkasteiung. Warum wird über die Lebensweise von Urwaldstämme und indigenen Völker sinniert, obwohl keiner so leben möchte wie diese. Zumindest kenne ich keinen, der das versucht und anstrebt. Was soll das Leben im Einklang mit der Natur sein?

Wir reden davon, dass sich der Mensch von der Natur entfernt hat, aber das kann er gar nicht. Er schafft sich die Natur, in der er sich wohlfühlt. Wie andere Lebewesen auch, gestaltet er seine Umgebung nach seinen Bedürfnissen, was zugegebenermaßen häufig viele andere Lebewesen in Mitleidenschaft zieht. Ob sich ein Mensch in einer Wohnung in einem Häuserblock wohlfühlt, liegt nicht daran wie vermeintlich natürlich gebaut wurde, sondern mit welcher Einstellung er darin lebt und in welcher Komfortzone er sich wohlfühlt.

Fazit

Ich will mit meinen Schlussfolgerungen nicht dahin kommen unseren Umgang als Menschheit mit der Natur, also mit uns selber, in Ordnung zu finden. Im Gegenteil, er gefällt mir nicht. Mir wäre es lieber, wenn wir auf uns selber, auf alle anderen Menschen und auf alle übrigen Lebewesen sowie ihre Lebensräume mehr Acht geben und Rücksicht nehmen würden. Ich bin selber dabei bestimmt und kontinuierlich meine Welt entsprechend zu gestalten und sehe viele Menschen, die sich ihrer eigenen Auswirkungen nicht nur bewusst sind, sondern auch versuchen, dass die Konsequenzen ihres Handelns möglichst wenig Nachteil und Schaden für so wenig andere Bewohner dieses Planeten haben wie möglich.

Aber Bewusstsein und Vernunft sind vergleichsweise neu in der Natur und auch wenn wir Menschen damit ausgestattet sind, sind ihr Einsatz und Gebrauch keine übergeordneten und einfachen Mechanismen. Wir müssen es als Individuen lernen und lernen es auch weiterhin noch als gesamte Spezies. Es gibt ja keinen, der es uns vormacht oder eine übergeordnete Anleitung. Deshalb strebe ist danach die Dinge bewertungsfrei hinzunehmen, die ich nicht verändern kann und auch die Bedrohung, die wir für uns selber als Spezies sind, ohne Groll zu betrachten. Haben wir durch unseren Verstand und unsere Macht mehr Verantwortung und Pflicht? Haben wir dennoch das Recht uns dem Lauf der Natur hinzugeben? Immerhin liegt es auch in der Natur der Sache, dass das eigene Emporkommen, Überleben, Leben und Gedeihen eines jedes Wesens zu Ungunsten anderer erfolgt, wenn auch mit unterschiedlich heftigen Ausprägungen.

Der Unterschied darin, ob nun ein Meteorit, ein Vulkanausbruch, ein Virenbefall, das Lebensende der Sonne oder der Mensch das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, zerstört oder zumindest große Teile davon beschädigt, liegt doch nur darin, dass uns eine Absicht bzw. Entscheidungs- und Handlungsfreiheit zugesprochen wird. Unterm Strich bleiben alles natürliche Faktoren, die gnadenlos umgestalten.

Es ist offensichtlich, dass wir uns den Planeten unwirtlich und ungemütlich machen und aus bequemer Naivität und Ignoranz auch nicht damit aufhören. Und wie die meisten von uns, hoffe auch ich, dass ich noch nicht soviel davon mitbekommen werde, dass es mein Dasein, das ich mir so schön eingerichtet habe, betrifft. Leider hoffen auch die meisten, dass es die wenigen, tätig seienden Menschen für sie schon richten werden. Die Evolution des Menschen hin zu einer Spezies, die die Selbstzerstörung überwindet, ist ein nettes Extra, aber keine Absicht, kein Plan und keine Notwendigkeit.

Nachtrag: Wiedererkannt habe ich meine Sicht auf das menschliche Verhalten in diesem kurzen Beitrag aus der scobel-Sendung zur Selbstsabotage.

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